Sommer Zweiundzwanzig
Anders als gestern ist das Meer heute unglaublich laut. Der Wind peitscht es auf und die Wellen springen einander in den Nacken wie sich aufbäumende Rosse mit schäumenden Mäulern. An den weiß-gelben Sandstrand. Hoch und runter. Hoch und runter. Sie schnauben und schäumen.
Gestern noch das Meer so still und leise. Stehend, fast stumm. Spiegelglatt ohne jedes Lüftchen. Nackt funkelnd in der brennenden Sonne. Nur der Salzgeschmack beim Tauchen und in den Haaren erinnerte mich daran, dass ich am Meer bin und nicht an einem Badesee.
In der Ferne sehe ich den Wachturm. Oder vielleicht auch nur eine Radarstation? In meiner Vorstellung ist es ein Wachturm und sich langweilende Neunzehnjährige mit Feldstechern sitzen darin, glotzen herunter und nehmen dann und wann belangvoll und unentbehrlich daherkommende Befehle entgegen. Wenn überhaupt. In Wahrheit ist die Grenze langweilig.
Wahrscheinlich sind wir diesen Sommer eine Alarmstufe höher als letzten Sommer. Aber mehr als diese theoretische Eskalation der Wachsamkeit ist hier bisher nicht geschehen. Nichts tut sich! Schon damals tat sich hier nichts, als alles hinter der Grenze militärisches Sperrgebiet war und noch nicht einmal Staatsbürger der UDSSR ohne Sondergenehmigung die Grenze überqueren durften.
Hier ist eines der Enden der Welt. Ich glaube, es gibt mehrere davon. Nur das Meer und die Vögel, an einem Tag wie heute manches Mal auf dem böigen Wind segelnd, manches Mal fast wie hin und her geworfen, machen sich nichts aus den Enden der Welt, aus den Grenzen, die wir Menschen uns setzen! Sie trotzen den Regeln, haben die Freiheit, nehmen sie sich. Wie eh und je schickt das Meer seine Wellen ungehemmt zum Strand. Selbstverständlich wie eh und je ziehen die Vögel ihre Kreise über den weiß-grünen Dünen, auf denen so manche grellrote Beere selbstbewusst den hellblauen Wolken befleckten Himmel anstrahlt.
Einmal laufe ich hin. Ein paar Holzpfosten sind dort in den Sand gerammt und mit Seilen verbunden. Dieses Ende der Welt liegt circa zwei Kilometer von meinem Lieblings-FKK-Strand entfernt. Manchmal laufe ich barfuß im nassen Teil des Strandes, wo die Wellen auslaufen und runde, meist schwarze oder dunkelrote Steine im Strandbett liegen, manchmal knirschenden Schritts im trockenen Teil des Strandes, wo meine Füße den heißen Sand nicht lange aushalten. Ich ziehe an Badenden und Sonnenanbetern vorbei, an Urlaubern, Familien, Frauen mit Kindern, Paaren, Erwachsenen, Einzelnen. Zum Schutz vor den stechenden Sonnenstrahlen, die sich im leichten Wind cachieren, haben einige Tücher über vom Meer abgenagte Äste geworfen, die sie in den Sand gesteckt oder aneinander gelehnt haben. Andere haben originelle Zufallskonstruktionen mit am Strand gefundenen Baumstämmen, alten Holzpaletten oder Autoreifen gebaut. Nur Thomas Mann soll sich einen Strandkorb mitgebracht haben, als er sich und der Familie mit dem Preisgeld Anfang der 30er Jahre im benachbarten Örtchen ein kleines Sommerhaus baute und zwei oder drei Sommer hier verbrachte. Ich lese, seine Sommerfrischen hier seien eine Vorstufe zum Exil gewesen.
Desto näher ich der Grenze komme, desto weniger Menschen. So manche verlassene Zufallskonstruktion mit nackten Ästen hat der Wind noch nicht kassiert. Im Kontext der Grenze haben sie etwas Gespenstisches an sich. Das vor mir am Strand gen Westen laufende Paar entscheidet sich zu baden. An ihnen vorbei bin ich die Einzige zwischen den Grenzpfosten und der Welt, wie ich sie kenne. Angekommen inspiziere ich ein Schild, auf dem in russischer, litauischer und englischer Sprache steht, dass man eine Genehmigung brauche, um hinter der Absperrung weiter gen einstigem Samland zu wandern. Was soll das? Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Im Sand erkenne ich Reifenspuren von einem Gefährt mit vier Rädern. Waren das Soldaten auf Inspektion? Wohin führen die Spuren? Hinter die Seile würde ich im Traum nicht gehen. Ich wage noch nicht einmal zu fotografieren. Der Wachturm steht deutlich hinter der Absperrung. Ich kann nicht klären, ob er nicht eigentlich doch eine Radarstation ist. So verlassen, dieses Ende der Welt.
Ich setze mich, bleibe, sinniere am Fuß der Düne, die den Strand vom Rest der Nehrung trennt. Ein Mann kommt vorbei. Edler Körper im Saunahandtuch. Er ist an der Reihe, das Schild zu inspizieren. Aus circa einhundert Meter Entfernung beobachtete ich, wie er eine verlorene Brille, die über dem Schild an der Absperrung hängt, herunternimmt, anprobiert und verspielt auf seiner Nase zurechtrückt. Ich hatte das Fundstück aufgesteckt gesehen, aber nicht gewagt, es anzurühren. Ihm fehlt ein Spiegel. Auch ich kann nicht erkennen, ob die Brille ihm steht, ob er ulkige Grimassen schneidet oder eine gar absurde Szene fabriziert. Er ist zu weit weg. Ein paar Mal habe ich den Impuls ihn heranzuwinken oder auf ihn zuzulaufen. Wir sind beide an diesem Ende der Welt. Jeder von uns für sich allein. Warum eigentlich? Was ist mein Gefühl hier? Ich will sprechen, bleibe stumm. In mir. In meinen Gedanken. Winke nicht.
Die Unfassbarkeit besteht für mich darin, dass Grenzen ernst zu nehmen sind. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass Grenzen nur der Form nach bestehen, im materiellen Sinne irrelevant sind. Klar, dass das sogar innerhalb Europas die Unwahrheit ist, hat sich schon während der europäischen Staatsschuldenkrise, im Herbst 2015 und während der Pandemie gezeigt. Aber dieser Wachturm und die Seile zwischen den in den Sand gerammten Holzpfosten und das Schild, das ich nicht fotografieren will, schreien Konflikt, flüstern Krieg.
Diese Grenze ist für mich wie eine Tür, die plötzlich aufspringen und mich verschlingen könnte, ohne dass jemand je wüsste, was mit mir geschehen. Ebenso könnte diese Tür aufspringen und jemand zielgerichtet herausmarschieren, mich überrollen, die Freiheit, die ich lieb zu haben glaube, wegmachen, auslöschen, zerstören. – Diese so leicht befestigte Grenze macht mir Angst.
Wann reden wir wieder? So richtig. Wann und warum haben wir überhaupt damit aufgehört? Hatten wir mal damit angefangen? Wie weit zurück reicht die Geschichte? – Der Mann reckt und streckt sich, schaut in die Abendsonne. Dann dreht er um und geht zurück. Ich höre nichts. Weder das Meer noch den Wind noch seine Schritte im Sand. Stille an diesem Ende der Welt.
Ich bleib noch eine Weile. Letztendlich fange ich an mich zu berühren. Nur so zum Spaß. Aus Langeweile in der sprachlosen Einöde. Eine Provokation für die neunzehnjährigen Feldstecher im Wachtturm? Ich will nicht übertreiben. Sollte schnell gehen, aber geht grad nicht. So laufe ich los. Nach einer Weile halte ich an und mache fertig. Ein bisschen Luft gemacht. Einfach nur Druck weg. Ich laufe weiter. Zurück. Allein. Es gibt nur die eine Richtung.
Was lasse ich im Rücken? Eine mir unbekannte Welt mit ihrer eigenen Logik. Ich lese ein bisschen darüber. Wer weiß schon wirklich, wie die beiden Systeme zueinanderstehen? Es geht auch um subjektive Vorstellungen, Feindbilder, die aus Erniedrigung, Angst und Verlust und Wut zu Hass gewachsen sind. Der kontinuierliche Aufbau von Institutionen misslang, die Boote verließen den Hafen ohne die Menschen, die ihrer tragende Rolle unbewusst blieben. Damals in den 90ern fand eine rasante Öffnung statt. Viele Staatskonzerne wurden privatisiert, an die Börse gebracht, internationalen Gläubigern und Investoren feilgeboten. Sie haben Arbeitsplätze und wirtschaftliche Rationalität und Effizienz mitgebracht. Die Teilhabe am Kapitalwert dieser Güter entging dem Gros der Bevölkerung. Die Interessenlagen, die Wirklichkeit so komplex, dass eine junge Zivilgesellschaft, eine gesetzgebende Gewalt, kaum durchblicken konnte. Die ausländischen Mächte doppelzüngig. Mit guten Intentionen, immer auch mit Eigeninteressen. Da war die Konnotation der Freiheit auch negativ! – So reime ich mir alles zusammen. War ich damals dabei? Nein. Hätte man es besser machen können? Ja. In der Kürze der Zeit? Wer weiß! Es war kompliziert. Es ist die alte Debatte. Was ist ein gerechter Maßstab für die Evaluation? Und bei uns heute: Wer nutzt schon seine Freiheit für etwas anderes als Narzissmus? Wer ist schon offen? Und steht ein für „unsere Werte“? Jedenfalls aber werden Leute vergiftet. Und Kinder in den Krieg geschickt. Und Bomben explodieren an Jahrestagen. Und Zivilistinnen werden beschossen. Und Journalisten verschwinden. Und eine Allianz aus Kirche und Staat kämpft gegen ein homosexuelles, kosmopolitisches Feindbild, das die Fantasien mancher Gekränkter zum Kochen bringt.
Zurück in der Hitze des Frauen-FKK-Strands. Bäuche liegen im Sand, leblos, wie ausgeschaltet. Von unten sehe ich die aufeinander liegenden Speckringe. Oftmals werden die Brüste eins mit dem Bauch, stellen lediglich eine weitere Rundung dar. Andere Bäuche sind eckig. Ohne runde Speckringe. Mehr wie eine dicke Platte, ein regelrechter Panzer, der die Gefühle, das Sein, das echte Ich schützt. Andernorts quillt das Bauchfett wegen einer Narbe ungleichmäßig über die Bauchfläche. Manche Scheide suche ich voyeuristisch unter dem Speckmantel. Während manche dünne Schamhaare haben, haben andere eine oder mehrere dicke Locken. Die Köpfe dieser Körper kenne ich gut! Aus dem Straßenbild, aus dem Bus, aus der U-Bahn. Wenn sie dort verkehren, sind sie geschminkt, haben einen frechen Kurzhaarschnitt, gefärbtes Haar, individuelle Ohrringe. Vielleicht sind die Gesichter ein wenig aufgequollen und verlebt, jedoch muten sie weder alt noch jung an. Die Körper, die zu diesen Köpfen gehören, gibt es für mich normalerweise nicht. Im Straßenbild, im Bus, in der U-Bahn bin ich blind, was sie angeht.
Ich bin im Wasser und schaue auf den Strand: Etwa 80 Meter von mir entfernt unter einem Sonnenschirm liegt eine Frau in Totenstellung—also Arme und Beine im leichten Winkel von sich gestreckt—entspannt, fast erhaben auf ihrem Strandtuch. Eine Mütze über das Gesicht gelegt. Und den Kopf leicht angewinkelt, weggedreht. Ja, schlapp. Sie schläft den Schlaf der Arglosen. Und doch: Sie hat eine so herrschaftliche Pose! Sie nimmt sich einfach den Raum. Denkt noch nicht einmal darüber nach, denn sie schläft ja, hängt schlapp in der Hitze. Der Kontrast zu meinem Alltag, in dem ich und andere häufig so höflich zurückhaltend und platzsparend sind, dass wir kaum am Tisch Platz nehmen, geschweige denn sprechen, könnte stärker nicht sein. Die jüngeren Frauen, in meinem Alter, sind allein oder mit Kindern. Die, die allein sind, haben makellose Körper. Die mit Kindern haben manche Geburtsspur und meistens Bikinihöschen an. Die Alten sind es, die mich frappieren. Ihretwegen bin ich so voyeuristisch am Frauen-FKK-Strand unterwegs. Sonst drapieren sie ihre Bäuche, Brüste, Arme und Beine mit einem Lippenstift oder einem frechen Haarschnitt oder einem Kleid in lauten Farben. Und es geht viel Arbeit und Aufwand hinein in diese Kostümierung. Jedenfalls sitzen zwei dieser nackten Bäuche im Sand und unterhalten sich unendlich lang. Sie hören gar nicht mehr auf. Sie strahlen eine selbstgewisse Selbstverständlichkeit aus. Ist das die echte Freiheit? Einfach sitzen, man selbst sein, Raum einnehmen, alles zeigen, nichts verstecken? Ich renne ins Wasser und wieder raus. Meine Brüste fliegen dabei. Und nichts ist im Po. Ich falle hinein, spreize die Beine, wie ich will. Tief und nochmal. Hoch und runter. In den Schaum hinein. Eine Welle trägt mich an Land, eine andere saugt mich runter und raus. Uah. Kontrollverlust. Ich liebe es hier. Das Salzwasser prickelt auf meiner Zunge und meinen Lippen. An der nackten Wahrheit ist nichts zu rütteln.
Kann ich nächstes Jahr noch einmal herkommen? Im Sommer 2020 durchkreuzte die Pandemie meine Pläne, mit dem Zug von Berlin zu einer Hochzeit nach Moskau und dann nach Odessa an den Strand zu fahren. Noch jetzt implizieren so manche Strandbilder von Odessa im Internet das Lebensgefühl einer Zeit, in der Coca-Cola noch etwas Besonderes war. Da wollten wir hin! Diesen Sommer wollte ich nicht noch einmal, dass eine Reise einfach unmöglich würde, weil der Vorhang fällt! Das klingt wie die 60er. Wie die Mauer—so haben wir immer zu Hause gesagt, „die Mauer!“ So bin ich also dieses Jahr hierher an die Kurische Nehrung gekommen, die im Wandel der Zeiten immer wieder Deutsch, Russisch oder Litauisch war. Zu all diesen geopolitischen Urlaubserwägungen kamen noch meine Liebe zur Unaufgeregtheit und Privatheit der Ostseeküste und ein einfühlsames Buch, das mir seit meiner Jugend in Erinnerung ist. Dieses Buch handelt von einem Soldaten, der im Sommer vierundvierzig auf Heimaturlaub hier bei sich zu Hause an der Kurischen Nehrung war. Während seines Urlaubs sog er alles auf: Die Wellen, den Wind, den Duft der Kiefern, die Vögel und die Mädchen. Die Gedanken an die Abreise und die Rückkehr an die Front quälten ihn. An Tagen, an denen der Wind aus dem Landesinneren kam, hörte er schon die Stalinorgeln dröhnen. Er wusste, es war sein letzter Sommer hier, seine Heimat würde für ihn verloren gehen. Er sah das Unausweichliche und es kam immer näher. Was ist noch da von dieser Zeit, von diesen Ängsten und Schmerzen und diesen heißen Sommertagen? Kann ich schwelgen in dieser Vergangenheit? Warum? Wie? Die Geschichte ist überall, in unserer DNA, in meiner DNA, sie ist unser Warum. Mein Eindruck ist, dass wir Menschen uns wenig mit der Geschichte verbinden, dass wir sie als eine entfernte Bühne, auf der die Großen und Mächtigen verhandeln, verstehen und ad acta legen. Dabei ist Geschichte das, was meine Familie erlebt hat, was tief in mir steckt, mein Denken und Handeln leitet, meine Gefühle, Aktionen und Reaktionen bestimmt. Jeden Tag!
Ich verlasse den Strand und schlendere durch die duftenden Kiefernwälder zurück zu meinem Apartment. Der Wald schützt vor dem treibenden Sand der Dünen. Hier muss Opa auch durch sein. Auf dem Rückzug. Gelaufen oder gefahren? Waren die Bäume damals schon so hoch? Mir fehlt das Vorstellungsvermögen für die mörderische Kälte des Januar 45. „Der Frost biss wie ein Wolf. Fast dreißig Grad – / und fußhoch Schnee, der alles Leben lähmte. / Gestalten, deren sich die Sonne schämte, auf allen Wegen und auf dem kleinsten Pfad. // Gehetzte, Todesschatten im Gesicht, / die blindlings vor dem nahen Feinde rannten, / wie wenn sie innerlich vor Qual verbrannten, / die Augen flackernd wie im Wind ein Licht. // Die Leichen häuften sich an diesem Strom. / Getier und Mensch lag eng im Tod beisammen. / Und über allem dunkelrote Flammen: / Brandfackeln in der Heimat heiligem Dom!“[1]
Die Geschwister reden in ungeordneten Bildern. Sie haben nur Bruchstücke, Fetzen, Flecken von dem Ganzen. Was ist das Ganze? Das, was Opa passiert ist? Das, was er erlebt hat? Das, woran er sich erinnerte? Das, wovon er erzählt hat? Mama erinnert sich, manchmal, als sie als Nachzüglerin noch klein war, ist sie morgens zu Opa ins Bett gestiegen, um mit ihm zu kuscheln und sich zu wärmen und zu spielen. Oma war dann meist schon Kaffee machen in der Küche. Es kam ein Wort zum anderen und dann kam eine Erinnerung hoch und plötzlich ging es los: Vom Straßenkampf in Danzig. Von den Mücken im Wolchow, wo alles gleich aussah und man sich so leicht verirren konnte. Von der langen Zugfahrt ins Niemandsland. Von den russischen Granaten und den Schützengräben, die man tiefer graben musste, um einigermaßen sicher zu sein, als die Amerikaner begonnen, den Russen Waffen zu liefern. Mehr als dass sie eine zusammenhängende Geschichte erzählt, macht Mama Geräusche nach, wirft wild die Arme umher. Die Wagnerfamilie. Seit Jahrhunderten eine Musikerfamilie!
Opa kam erst circa 42 in den Krieg. Nach Stalingrad, als es um alles ging und keine Zeit für Militärmusik mehr war. Im Zug ist er von Neustrelitz, einer Preußischen Garnisonsstadt nördlich von Berlin, an die Ostfront gefahren. Tagelang hätte die Reise durch menschenleeres Niemandsland gedauert und bei aller Anspannung die Frage aufgeworfen: „Was machen wir hier eigentlich? Niemand da! Keine Menschenseele.“ Einmal, Anfang der 1990er Jahre, kurz nach der Wende, war Mama mit dem Auto nördlich von Berlin unterwegs und sah Neustrelitz auf einem Autobahnschild angeschlagen. Sie war ganz außer sich. Aufgebracht. Neustrelitz. In ihrer Familiengeographie war das längst in Russland! Jedenfalls könnte Opa zu jenen Soldaten gehört haben, die sich nach Memel (heute Klaipėda) zurückzogen, als die Heeresgruppe Mitte aufgerieben wurde. Wenn dem so war, versuchte er von Oktober 1944 bis Januar 1945 vergeblich, die Stadt zu halten, ehe er vor der herannahenden russischen Front über die Nehrung nach Königsberg und dann Danzig floh. Dort ist er im Häuserkampf gewesen. Verzweifelt, aber ohne aufzugeben, so die Familienfolklore. Einmal sei er sogar in eine Jauchegrube gefallen. Und dann raus auf der Deutschland und kurz vor ihrem Untergang von Bord gegangen.
Ich stolpere durch den Wald. Die Gedanken und die Wolken und die Wipfel im Lichtspiel schwankend zwischen Schatten und Sonnenlicht. Über mir der alte Leuchtturm, der damals alles erduldet haben muss. Opa muss ihn gesehen haben. Dachte er, hier lauert Gefahr? Ich glaube, er wollte einfach, dass es aufhört. „Es.“ Ich habe das Rosenkranzkreuzchen aus seinem kleinen Samtbeutelchen genommen und drehe es mit den Fingerspitzen. Ich nehme es auf jede Reise mit. Opa hat den Kranz damals von einer Klosterschwester in Augsburg bekommen. Damals, kurz bevor es los ging. Wie oft hat er das Kreuzchen gedreht? Wie viele Male?
Meine Stolpertour führt mich zu den Ausstellungsräumen und Wohnungen der Sweet Dreams Foundation, im weitesten Sinne die Fortführung der Künstlerkolonie, die hier einst in Nidden zusammenkam. Da lese ich auf einem Plakat: “An diesem Ort, mitten im Wald, kann man sich leicht in Träumen verlieren. Sollten wir diese Chance nutzen? Sicherheit ist ein Privileg in einer Welt in Aufruhr und Umbruch und wahrscheinlich vergänglich. Wie können wir es am besten nutzen? Wenn wir sicher sind und uns in Gedanken verlieren, haben wir die Möglichkeit, die Ungewissheit der Zukunft zu erkunden und uns anzupassen und vorzubereiten auf die echten Perplexitäten, die uns außerhalb dieses willkommen heißenden Waldes erwarten. – Unglaublich nah an diesem heiteren Ort findet ein brutaler Krieg statt. Krieg ist eine Quelle der Instabilität, der Unvorhersehbarkeit, der Prekarität und Ungewissheit. Während des Krieges kann man die Zukunft nur erraten oder erahnen oder für eine gewissen Zukunft beten, aber man kann sich nicht auf die Zukunft verlassen. “Zu planen, lähmt mich,” sagt eine Freundin aus Mariupol, eine ukrainische Küstenstadt, die zusammen mit ihren Bewohnern ausgelöscht wurde. Zu planen, was man im normalen Leben tun kann, ist in unsicheren Zeiten irrelevant. Welche anderen Strategien haben wir, um uns auf die Zukunft zu beziehen und mit der Gegenwart umzugehen? – “Macht nicht mit dem normalen Leben weiter,” schrieb eine andere Freundin, die seit Ausbruch des Krieges in Kiew verharrt, auf ihre Facebook-Seite. Zu viele hoch erfreuliche (amazing) Dinge geschehen dort derzeit im Ausnahmezustand. Viele Menschen haben plötzlich verstanden, dass, das sich in der Unvorhersehbarkeit zu verlieren, ein Privileg ist, wo weder eine erhoffte, gewünschte Zukunft noch eine bestimmte Gegenwart sie zurückhält oder einengt. Egal wie lange die Unvorhersehbarkeit dauert, niemanden kümmert es, der nächste Tag ist nicht garantiert. Können wir diese Möglichkeiten für uns entdecken und erobern? – Wenn die Wirklichkeit in sich zusammenfällt, bekommen Träumer eine eigene Aufgabe. Es ist noch nicht entschieden, mit welcher Welt wir es zu tun haben, wenn die Übergangszeit vorbei ist. Die Träume der Träumer könnten die Grundlage für die neue Welt sein. Lasst uns mit ihnen sprechen.”
Ich verlasse die Nehrung. Wir fahren mit dem Bus durch die Wipfel. Die Sommersonne spielt mit den Bäumen, blinzelt abwechslungsreich durch die Äste, verzaubert mich mit ihrer Schönheit. Dann wieder der freie Blick auf die Dünen, das Meer, die sandige Wüste, die der Wind heute sanft küsst. Wie kaputt kann die Welt sein, wenn ich das hier alles erleben, sehen, fühlen kann? Werde ich kämpfen müssen? Ich sinniere über Löcher im Dreck und meine Unvorbereitetheit. Könnte ich leben oder überleben? Wie zäh war Opa? Er war in der Partei und nicht nur das. Tätowierung hatte er keine. Seine Entnazifizierungsstrafe war ein Auftrittsverbot und eine Zahlung in Höhe von 40 Mark. Ich steige aus dem Bus und setze mit der Fußgängerfähre nach Klaipėda über. Der Stadt früherer Name, Memel, ist einer dieser Namen, die keiner mehr nennt. Dieser Ort hat über Jahrhunderte immer zu Ostpreußen gehört und war durch deutsche und litauische Einflüsse geprägt. Die direkte Fährverbindung nach Kiel ist eines der geopolitischen Relikte. Es ist Sonntag. Ich spaziere über das Kopfsteinpflaster der Altstadt und setze mich ins Café. ine blonde Frau mittleren Alters läuft vorbei. Was ist ihre Geschichte? Zwei Soldaten kommen auf mich zu. So dünn. So jung. Wie hat der Krieg Opas Pläne durchkreuzt? Nach dem ersten Weltkrieg entstand das Memelland erstmals als abgetrennter Teil von Ostpreußen, wurde zunächst von den Franzosen für den Völkerbund verwaltet und dann von den Litauern 1923 übernommen. Ich finde ein tonloses YouTube Video, das eine geschäftige Inszenierung Hitlers zeigt, der Memel inspiziert, nachdem es „ins Reich heimgekehrt war.“ Er beschwört die Menge vom Balkon des städtischen Theaters, unter ihm der Platz mit der zierlichen, schönen Ännchen von Tharau Statue. Wie oft hat Opa als junger Musiker Simon Dachs Lied gesungen? Die historischen Häuser hier haben alle Fahnenhalter. Wer hat hier sein Fähnchen geschwungen und wann? Am Stadtrand: Hat Opa in einer dieser Kasernen gewohnt, wo jetzt die Universität und das deutsche Konsulat sind? Wieder Kontinuität! Oder war er in einem der Gräben, die man noch erahnen kann, vor der Stadt verschanzt? Auf dem Friedhof liegen Menschen, die neben Opa im Dreck verendeten. Was hätten wir von diesem Riesenreich gehabt? Opa hatte Granatsplitter im Rücken, die Oma beim Baden im Weiher an einem Sommerabend in den 60er Jahren entdeckte. Da bildete sich plötzlich am Rücken ein Sack, eine Fettgeschwulst, die die Granatsplitter einpackte. Dann entfernte man sie operativ. Der Bahnhof in Klaipėda hat von Gentrifizierung noch nichts gehört. Trist. Wer oder was wurde hier wann verkarrt? Die Tante und der Onkel sagen, Opa hat nie von Memel erzählt. Von Königsberg auch nicht. Die Kurische Nehrung kam in seinen Geschichten vor, aber nur kurz.
Einmal in den 90er Jahren war Opa zu Besuch und erzählte von sich, als wir am Abend auf der Terrasse saßen. Er sei in einen Graben geraten, sollte schauen, ob noch jemand anzutreffen war. Er war in der Vorhut oder Nachhut. Jedenfalls, mein Bild ist, dass Opa in einen verlassenen Verschlupf kommt und Angst hat, da sei noch jemand, der ihn vielleicht angreife. Er findet dann auch tatsächlich jemanden. Opa denkt, der Mann ziehe seine Pistole. Er kommt ihm zuvor, schießt. Als der Mann zu Boden fällt, sieht Opa, dass der Mann ein Bild seiner Familie aus der Jackenbrustinnentasche ziehen wollte. Blut fließt auf den Boden. In meiner Vorstellung war der Mann gleich tot. Unwahrscheinlich! Wo soll Opa schon hingeschossen haben. Doch nicht gleich in den Kopf. Also hatte er jetzt ein echtes Problem. Und all das kam in Opas Geschichte gar nicht vor. Er saß auf der Terrasse mit den dunkelroten Fliesen und weinte. Ich erinnere mich an Leere. Daran, keine Lösung und keine Gefühle zu haben. Hat jemand Opa in den Arm genommen? – Irgendwie hoffe ich, dass Opa gar nicht geschossen hat. Ging die Geschichte nicht eigentlich so, dass Opa jemanden fand, der ihm ein Familienfoto zeigte. Habe ich den Rest hinzuerfunden? In meiner Erinnerung war die Stimmung auf der Terrasse eine Stimmung der Lähmung, so dass mir die Ohren heiß liefen.
Es ist Nacht! Der Vollmond thront zeitlos am schwarzen Himmel und beleuchtet den untergegangenen Schatz. Passkontrolle im Bus auf dem Weg von Klaipėda nach Warschau. Im Bus könnten illegal Einreisende sein. Wir fahren durch ein Spannungsgebiet. Den Korridor, auf den alle schauen. Wie breit ist er? Die Geschichte geht immer weiter. Nur nach vorn. Es ist alles so subtil. So ungreifbar. Niemand weiß etwas. „Es war einfach so.“ Das ist ein Satz, den ich von Mama kenne. Der deutsche Erinnerungskult ist überall, aber wenn es darum geht, Gefühle zu haben, die Geschichte und die Gefühle zu verbinden, kommen wir in meiner Familie zu nichts. Dann sind unsere Körper und Seelen verschlossen. Keines der Geschwister hat jemals die Karte aufgeschlagen und gefragt: „Vater, wo warst du überall?“ Hätte Opa geantwortet? Ich fahre zur Tante und stelle 58 Fragen. „58 Examensfragen,“ sagt sie. Ich leuchte hinein in die dunklen Ecken und lasse doch „Keine Ahnung!“ als Antwort gelten. Allerlei ungewohnte, vieldeutige Gefühle schwingen in der Luft. Haben wir gut zugehört? Konnte man das verstehen? Hätten wir uns damit mehr befassen müssen? Warum hat uns das damals nicht so wirklich interessiert? Angeblich brach es aus dem angeheirateten Mann meiner Tante in den 70er Jahren einmal heraus: „Ach du, immer nur vom Krieg erzählst du, immer nur vom Krieg, immer nur dasselbe. Jetzt ist Schluss. Schluss jetzt mit den Kriegsgeschichten! Der Krieg ist schon lang vorbei.“ Es kommt heraus, dass Opa sich sonntags meist mit anderen Veteranen in der Küche traf. In den 40ern, 50ern, 60ern. Gemeinsam sprangen sie ins heiße Bad der Gefühle. Hinein da! Wo war Oma dann? Welche Töne kamen aus der Küche? Ich stell mir was Lautes, Lebhaftes vor. Superlative! Geschichten ohne Ende. Schluchzen!
Eine junge Frau mit rot getönten Haaren und Sommersprossen betritt das Abteil. Lange Beine. Der Zug steht noch in Warschau im Bahnhof. Ich sitze schon. Der Sohn kein Kind mehr aber auch noch kein pubertierender Jugendlicher. Er ist hochgewachsen und drahtig. Keine braunen Haare. Keine schwarzen. Was in der Mitte. Einen Topfschnitt. An mancher Stelle sind die Haare mit einer Maschine kurz rasiert. Ich schätze fachkundig, dass sie an diesen Stellen ca. 7 mm lang sind. Zusammen versuchen Mutter und Sohn einen großen Koffer auf die Ablage über den Sitzen zu hieven. Es klappt nicht ganz. Sie lachen, als ob sie etwas Urkomisches machten. Die Mutter hat ein ansteckendes, mädchenhaftes Lachen und verführt ihren Sohn damit. Sie versuchen es zweimal, dann stehe ich auf und sage auf Englisch, „Ich werde Ihnen helfen.“ – Der Koffer ist riesig, aber unerwartet leicht. Ich hab ihn gleich oben. Die Mutter bedankt sich in einer unbekannt klingenden Sprache. Während der Zugfahrt chattet sie ununterbrochen auf WhatsApp und Instagram. Ihr Sohn macht Spiele auf dem Handy. Sie sitzen einander gegenüber im Abteil. Für kurze Zeit versucht der Junge auf den Knien seiner Mutter zu schlafen. Dann gibt er auf!
Wir fahren über die Oder und stehen auf offenem Feld. Keine Grenzkontrolle. Dann erst. In Frankfurt. Kein Problem. Sie holt die ukrainischen Pässe aus der Handtasche und wird durchgewunken. Alle anderen im Abteil haben EU-Pässe: Der bonzige Student, ich, die Frau mit den Käsebroten und noch eine andere, die erst in Posen eingestiegen war. – Dann sind wir in D. Endlich! Ich bin schon fast 24 Stunden unterwegs. Die Frau fängt an mit dem rechten Bein zu wippen. Ganz leicht. Sie schaut aus dem Fenster. Es ist schon dämmrig. Es kommen ein paar Bahnhöfe, die ich kenne. Plötzlich sehe ich eine S-Bahn. Wir kommen von Südosten in die Stadt und doch ist mir alles vertraut. Ich bin froh, erleichtert, fühle mich zu Hause, meine Welt geht auf. Die Stadt wird einfach nie alt und, wann immer ich hier ankomme, fühle ich mich wie im Land der unbegrenzte Möglichkeiten. Komme, was wolle! Hier sind meine Wurzeln. Wir stocken und stehen. Die Frau versteht keine einzige Ansage. Dann will sie am Ostkreuz den Zug verlassen. Ich halte sie davon ab, erfinde ein Wort: Centralny. Whatever. Als sie die Toilette benutzen möchte, lässt sie den Jungen mit ihrer Handtasche stehen. In dem Moment, wo wir eigentlich schon da sind! Ich helfe den Koffer herunterzuhieven. Ihre Rucksäcke sehen viel schwerer aus. Sie wissen nicht, wohin sie gehen oder was auf sie wartet. Ich weiß es: Nach Hause. Zu mir, da wo ich alles kenne und mich sogar der Dreck auf der Straße erfreut. Sie stehen wartend im Gang, während sich unser Zug durch die Stadt schlängelt. Dann fällt ihr ein, dass sie ihre Plastiktüte mit dem Essen unter dem Sitz vergessen hat. Sie ist so durcheinander, dabei ist sie doch die Erwachsene! Im Hauptbahnhof eingefahren steigen wir fast als Erste aus. Ein Helfer mit einer Leuchtveste nimmt Mutter und Sohn entgegen. Ich verabschiede mich, zeige ihnen den aufgerichteten Daumen und sage mit Nachdruck: „Good Luck.“ Sie bedanken sich wieder auf der unbekannt klingenden Sprache. Ich fahre mit der Rolltreppe hinunter. Ich weine. Irgendwie alles zu viel. Wohin jetzt? Es ist kühler als gedacht an diesem Montag im August.
Ein paar Tage später kommt eine Sprachnachricht. „Hallo liebe Mary! Ich bin bei meinem Opa in Schwedt auf dem Hof. Heute morgen mit dem Zug aus Berlin gekommen. Karli und meine Familie sind auch da. Leo hat Termine. Jedenfalls sind wir alle hier. Opa hat sich so gewünscht, dass wir auch wirklich an seinem Geburtstag, dem heutigen Mittwoch, hier auftauchen und nicht einfach am Wochenende nachfeiern. Narrenfreiheit eines 95-Jährigen! Heute Morgen beim Spazierengehen erzählte Opa wie immer vom Krieg und seiner Gefangenschaft und davon, wie er zurückkam und all seine Kleider bereits verschenkt waren, weil niemand mehr mit ihm rechnete. Und davon, wer alles erschossen wurde und was für eine dunkle, orientierungslose Zeit das damals war. Dann fügte er wie selbstverständlich hinzu: ‚Und trotzdem ist heute mein Geburtstag und ich bin so dankbar und glücklich über die Welt, wie sie ist und wie ich sie heute erleben darf. Frida, wie glücklich müsst ihr eigentlich sein?‘ – Weil wir keinen Krieg erlebt haben und nicht in Gefangenschaft waren. Mary, wie glücklich sind wir? Was machen wir eigentlich mit unserem einen, kleinen, unsagbar kostbaren Leben und mit dem der anderen, die mit uns leben, in der Nähe und in der Ferne? Und mit den Leben derer, die nach uns leben?“ Ich schaue aus dem Zugfenster, während wir langsam nach London hineinrollen. Es ist schon Herbst. Der Sommer ist längst verflogen. Später antworte ich mit einem Kuss und den Worten meines Opas: „Kinder, alles kann kommen, nur kein Krieg.“
[1] Fritz Kudnig, aus “Flucht und Einkehr.”
Maria C. Schweinberger